Wege durch das Land

Antoinettenburg, Schloß Rehder, Juli 2013

Villegiatura Vestfalica

Wege durch das Land – der Titel ist wörtlich zu nehmen. Woche für Woche von Mai bis August zieht die Karawane mit einem Troß aus Büchern, Manuskripten, Musikinstrumenten und begeistertem Publikum im Gefolge durch die Landschaft und kommt an Schlösser der Weserrenaissance, barocke Herrenhäuser, karolingische Kirchen, großartige Klosteranlagen, in die Gegend der 40 Mühlen, in die Landschaft der ‹Judenbuche›, an Kathedralen der Industriearchitektur, an Ziegelei und in moderne Produktionshallen. In der Konzeption der Gründerin waren alle Veranstaltungsorte literarische Schauplätze, über die in der Vergangenheit geschrieben wurde, und solche, die erst durch das Festival selbst zu einem Ort der Literatur wurden, denn immer bezog sich die Literatur auf die Geschichte der Lokalität, griff einen Aspekt heraus, vertiefte ihn durch die Kombination von Altem mit Neuem, kein museales Bewahren, sondern ein aktives, voranblickendes Gespräch, das Querverbindungen zwischen Zeiten und Räumen, zwischen den Künsten herstellte.

Villegiatura Vestfalica

Ostwestfalen ist voller poetischer Orte

Wenn an authentischem Ort Briefe von Rainer Maria Rilke, Gedichte von Friedrich Hölderlin, Traumbilder der Annette von Droste-Hülshoff, Harry Graf Kesslers Betrachtungen zu Lippe, Heinrich Heines Seufzer über ‹Deutschland. Ein Wintermärchen›, Voltaires satirisches Westfalenbild in ‹Candide›, Friedrich von Spees ‹Trutz-Nachtigall› oder die ‹Blumen des Bösen› von Charles Baudelaire in Spannung gesetzt wurden zu zeitgenössischer Literatur und Musik, dann entstand das besondere Amalgan dieses avancierten Kunstfestes, das zum wagemutigsten im literarischen Deutschland gezählt wurde und eine Kernregion der deutschen Literaturgeschichte entdeckte.

Fortschreibungen und Korrespondenzen

Die Literatur der Vergangenheit ist ein unverbrauchtes Reservoir, das Erfahrungen festhält, die wir in der Gegenwart anwenden können. Es sind im wahrsten Sinne des Wortes Texte, die uns etwas angehen und die in uns einen Widerhall erzeugen. Diese Lesungen wurden wie in einem Zwiegespräch über die Zeiten hinweg fortgeführt in den Lesungen der heutigen  Schriftsteller, sie kamen aus allen europäischen Ländern und aus Übersee, die Nobelpreisträger Derek Walcott,  Wole Soyinka, Tomas Tranströmer, Herta Müller sowie Adam Zagajewski, Adonis, Louis d’Alembert, Yang Lian – Fuad Rifka fuhr 6000 km, um endlich dahin zu gelangen, wo Hölderlin mit Susette Gontard glücklich war – in Driburg, nur wegen Hölderlins Dichtung hatte er Deutsch gelernt und in Deutschland studiert.

Schauspieler

Ein intellektuelles Sommervernügen

In der Vergangenheit kamen jedes Jahr Hunderte, ja Tausende von Menschen aus ganz Deutschland, um bei jeder Veranstaltung wunderbare Orte und Musiker zu erleben und den Schriftstellern und Schauspielern geduldig, aufmerksam, begierig zuzuhören, die zwei und mehr Stunden sprachen und vortrugen. Einmal angekommen, war man nicht mehr in der Provinz, sondern erlebte ein Literatur- und Musikprogramm, das sich nicht der schnellen Unterhaltung hingab, sondern die Rezitation eines Schauspielers sensibel verschränkte mit der Lesung eines Schriftstellers und Gedanken fortführte im Konzert. Das Programm, das Brigitte Labs-Ehlert ausgearbeitet und eingerichtet hatte, reagierte auf einen Mangel und auf ein Bedürfnis zugleich: es forderte heraus, es sprach intellektuell und emotional an. Die Intention war, das Schöne, Sinnhafte, Weltläufige zu zeigen und Fragen zu stellen, denn nie ist eine Sache abgeschlossen.

Oeynhausen Pause

Wie alles begann

Zur Expo 2000 hatte Brigitte Labs-Ehlert zusammen mit dem Architekten Peter Zumthor ein neuartiges Projekt zur Landschaftsgestaltung entwickelt: Mit Gedichten und Häusern für Gedichte sollte das lippische Bergland zu einer genuin Poetischen Landschaft werden, in der Literatur, Baukunst und Landschaft sich zu einem ästhetischen, sinnlichen und kulturellen Erfahrungsraum verbinden und sich die Besucher von Ort zu Ort, von Gedichthaus zu Gedichthaus auf eine Entdeckungsreise begeben. Gehen, Innehalten, Schauen, Lesen und Weitergehen.  Elf international renommierte Schriftsteller haben damals ihre Gedichte zur ostwestfälischen Landschaft geschrieben, Peter Zumthor entwarf Häuser für sie, die wie bei einer Akupunktur den Eindruck und die Wahrnehmung der Landschaft verstärkten. Zur Poetischen Landschaft gehörte auch die Einbeziehung der vorhandenen alten Kulturlandschaft mit ihren literarischen Schauplätzen und Bezügen. Der erste Teil des Projektes wurde nicht realisiert, der zweite Teil erlebte in dem Literatur- und Musikfest ‹Wege durch das Land› seine Verwirklichung.

Keine Wiederholung, niemals

Brigitte Labs-Ehlert entwickelte ‹Wege durch das Land› im Laufe der Jahre stets weiter, so mit dem internationalen, von der EU geförderten Projekt ‹Wege von Land zu Land›, das mit Exkursionen an einige Orte in Tschechien und Polen führte, zu denen es historische Verbindungen von Ostwestfalen gab, verbunden mit einem Künstleraustausch.

‹Junge Wege› boten für Kinder Parallelveranstaltungen zu den abendlichen Lesungen und Konzerten, die die Eltern besuchten.

Für die ‹Rede zur Architektur› wurden international renommierte Architekten eingeladen, an außergewöhnlichen historischen Ensembles über ihre Philosophie des Bauens zu sprechen.

Das Neue bekam ein Forum mit der ‹Lyrik-Session›, ein ganzer Tag wurde zeitgenössischen Dichtern aus dem In- und Ausland gewidmet.

Seit 2012 hielten Andrzej Stasiuk, Dzevad Karahasan, Roberta Dapunt, Michael Krüger und Marcel Beyer die Eröffnungsrede ‹An die Sprache›.

Die ‹Schauspieler in Residence› Jens Harzer, Lars Eidinger, Sebastian Rudolph und Fritzi Haberlandt konnten an jeweils drei Tagen Texte ihrer literarischen Vorlieben vortragen und mit Kollegen szenisch umsetzen.

Mit ‹Versuch über ein Dorf› betrat Robert Stadlober für ‹Wege durch das Land› mit einer Künstlertruppe aus Sängern, Musikern, Schriftstellern, Performern, Schauspielern und bildenden Künstlern, die mit begeisterten Amateuren und Laien zusammenarbeitete, Neuland. Heimsen als Tor zur Welt: das Experiment glückte und machte froh.

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